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Vier Tabus

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Eine Gesellschaft ist weitgehend oder gar ausschließlich durch ein oder mehrere Tabus definiert, welche sich im Laufe der menschlichen Evolution stark änderten. Es zeigt sich zunehmend, dass einseitige Tabus generell sehr unerfreuliche Konsequenzen haben. Ein ausgewogenes Nebeneinander von partiellen Tabus würde der Idee eines flexiblen (dynamischen) modernen Mittleren Weges entsprechen und könnte großen Nutzen bringen.  

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Schon zwischen Tieren einer Gruppe oder Herde existiert als wichtigstes und vorherrschendes Verbot das Tabu, nicht anderen Mitgliedern derselben Gruppe zu schaden. Als später in der menschlichen Ära Territorien unter einem Führer Gestalt annahmen, wurde letzteres wenigstens teilweise ersetzt durch das Tabu, nicht Sex zu zeigen. Durch das Anziehen von Kleidern wollten sie nicht nur warm bleiben, sondern sich auch von den Tieren unterscheiden. Nebenbei wurde aber, da im Gegenzug das erstere Tabu an Bedeutung abnahm, Gewalt gegen andere Menschen zumindest unter bestimmten Bedingungen erlaubt.

Das bedeutete den Beginn von Kriegen, die auch zwischen den oft sehr aggressiven Schimpansen auf einer Seite des zentralen Flusses des Kongo bereits stattfinden, aber nicht zwischen den eher friedlichen Bonobos auf der anderen Seite. Letzteree sind fast identisch mit den Schimpansen, aber leiden nicht so sehr unter knappen Ressourcen als Auslöser für den Kampf um Lebensraum.

Wir müssen wohl akzeptieren, dass die sogenannte menschliche Ära mit dem Aufkommen des Sex-Tabus begann. Die Menschheit ist also nicht unbedingt unter einem ausschließlich glorreichen Aspekt zu sehen. Das Sex-Tabu ermöglichte es den Führern, sich auf Macht und sogar Gewalt zu stützen und gleichzeitig andere von dieser Möglichkeit auszuschließen, was eine Voraussetzung für die Bildung von kohärenten Territorien und schließlich Nationalstaaten wurde. Dies war auch der Kern des Eunuchen-Systems am chinesischen Kaiserhof, was zum Zusammenhalt des größten von allen Territorien beitrug.

Das folgende zentrale Tabu, das wohl noch mehr an Bedeutung gewann, war nicht die Gruppe zu verlassen und nicht in kriegsähnlichen Situationen aufzugeben, die oft die Möglichkeit bargen, getötet zu werden als Soldat, der nicht desertieren durfte. Dieses Tabu garantierte den Zusammenhalt der Gruppe im Territorium und beschränkte die Möglichkeit, sich von der Gruppe allein oder wie ein Nomade zu entfernen. Daraus könnte sich neben anderem auch einen Sinn für die riesige chinesische Terrakotta-Armee ergeben.

Außerhalb des eigentlichen Territoriums der Bevölkerung zu leben, wurde in der römischen Zeit möglich. Der Wert dieser "Nomaden", die das Tabu brachen, sich nicht frei bewegen zu dürfen, wurde zuerst für den Handel als vernünftig erkannt, als zum Beispiel Karawanen aufkamen, und später geschah es auch zu Beobachtungszwecken. Die Hauptbevölkerung und jene Nomaden (man muss dabei nicht unbedingt an Leben in der Wüste denken) wurden als Gesamtheit betrachtet, was sicherlich die Entstehung der Idee einer sogenannten Zivilisation zunächst als ein neues Bewusstsein mit sich brachte.

Die ersten Personen dieser neuen Art von Nomaden in der Übergangszeit zur Moderne waren erst erheblich später, nach einer ziemlich langen Zeit voller Chaos, Leute wie Marco Polo und Kolumbus. Aufklärung führte zu einem zunehmenden, aber heftig bekämpften Tabu auf fundamentalistische Glaubensvorstellungen zugunsten der Rationalität und brachte grimmige Kriege zwischen Reformisten und Traditionalisten mit sich, nur auf den ersten Blick auf einer rein religiösen Ebene. Nach dem neuen Chaos des Dreißigjährigen Krieges bedeutete die Ära der Aufklärung einen weitgehenden Sieg der Rationalität. Dies legte die Basis für die aufstrebenden Naturwissenschaften und die Technik, führte aber auch zu tiefen sozialen Konflikten. Die folgende Romantik, welche die Abwendung von Vorbildern und dafür Gefühle stark favorisierte, führte zu einem wenigstens partiellen Tabu auf die Rationalität. Die erneute Rückschlag brachte die Unterdrückung von jeglicher Form von mitfühlender Sinnlichkeit mit erneutem Chaos unter dem Faschismus. Wer keine Form von Sinnlichkeit zeigte, vermochte Menschen anderer Gruppen auch unter sehr grausamen Umständen zu töten, was zur Rechtfertigung von Rassismus oder zumindest Feindseligkeit gegen Ausländer führte. Diese Tendenzen wurden exzessiv während des Zweiten Weltkriegs und in von den USA geführten Kriegen wie in Vietnam.

Die Nachkriegsgesellschaften wurden zunehmend mit dem Wunsch konfrontiert, gewalttätiges Verhalten zu bekämpfen, was von der Bedrohung durch Atomwaffen unterstrichen wurde. Am Anfang hat dies wieder in etwa gleichermaßen Empathie und rationales Denken begünstigt. Diese beiden Tendenzen gerieten jedoch untereinander in Konflikt. Die als Humanität verstandene Gefühlsmäßigkeit war Angelegenheit der Geisteswissenschaften, die noch mit dem nicht wirklich aufgelösten Konflikt zwischen Kommunismus und Kapitalismus haderten. Bevorzugte Rationalität veranlasste ein wachsendes Tabu auf Nicht-Rationalität mit hoher Wertschätzung von Naturwissenschaften und Technik vor allem durch stark zunehmende Kommunikation und Waffentechnik. Diese beiden Domänen begannen nun zunehmend miteinander zu konkurrieren, einerseits um Nuklearwaffen und durch Ausübung von Spionage, und andererseits mit dem Wunsch nach Abrüstung und nach Transparenz statt Geheimhaltung

Das Aufkommen von neuen Tabus brachte in der Regel mit sich, frühere Tabus mindestens weniger bewusst werden zu lassen. Zusammenfassend handelt es sich darum, nicht offen Sex zu zeigen, nicht die Gruppe zu verlassen, nicht fixierte Glaubensvorstellungen zu akzeptieren, und keine Gewalt zuzulassen. Deutlich bestand und besteht eine heftige Auseinandersetzung zwischen diesen verschiedenen Tabus.

In früheren Schriften (siehe: ARS-UNA.net/ebooks) wurde die Möglichkeit genannt, vier verschiedene Tabus den vier verschiedenen Hauptteilen des Körpers zuzuordnen, die während der Evolution nacheinander entstanden. Der älteste Teil ist der Unterleib, dem das sexuelle Tabu zugeordnet werden kann. Als nächster Schritt in der Evolution folgte die Bildung von Extremitäten, die eine aktive Bewegung erlaubten, auf die das Tabu bezogen ist, die Gruppe zu verlassen. Der dritte Schritt war die Bildung eines klar getrennten Kopfes, der zu einer Stärkung des Tabus der Nicht-Rationalität führte. Schließlich kam ein ebenfalls klar getrennter Oberkörper zustande, der mit Herz und Lunge als der Sitz der Gefühle betrachtet werden kann und ein Tabu keine Empathie zu zeigen mit sich bringt.

Offensichtlich können diese Zuordnungen nicht streng bewiesen werden, und daher könnte ein gewisser Grad an autoritärer Willkür darin gesehen werden. Aber die Korrelation scheint so stark zu sein, dass es sehr wahrscheinlich ist, damit ein nützliches Bild zu haben, dem nicht etwa eine Basis fehlen muss.

Es sollte betont werden, dass sich nicht zufällig genau vier Tabus entwickelten, was widerspiegelt, dass die vorherrschenden Methoden der Beschreibung in den Naturwissenschaften vier Dimensionen verwenden und dass ähnlich auch eine Reduzierung der Anzahl zu verwendender Kategorien in den Geisteswissenschaften auf vier ebenfalls möglich erscheint. So könnte man im allgemeineren Sinne eine vierdimensionale Welt annehmen, die bei der Evolution der menschlichen Art vier Tabus mit sich brachte. Diese führten nacheinander zu vier Arten von "Monoismen", wobei jeder von diesen ein bestimmtes Tabu zur Folge hatte. Das sexuelle Tabu führte zur Monogamie; das Tabu, die Gruppe nicht verlassen zu dürfen, brachte den Monotheismus; die Aufklärung bewirkte mit einem Tabu auf fundamentalistischen Glauben eine möglichst ausschließliche Rationalität; und die Romantik förderte mit einem Tabu auf Gewalt möglichst vollständige Gefühlsmäßigkeit.

Die praktische Konsequenz dieser Überlegungen könnte eine stärkere Skepsis gegenüber einseitiger oder übertriebener Begünstigung einzelner Tabus sein, zum Beispiel jetzt wieder von Nicht-Rationalität als Art von Gegenreform gegen das exklusive Tabu auf Gewalt nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Ziel, mehr Militär und schwere Waffen zu rechtfertigen. Der vorgeschlagene moderne Mittlere Weg könnte in Zukunft sich wiederholende übertriebene Zulassung von einseitigen Tabus eindämmen, was nur als Mittel für Vorherrschaft dient.

Rational kann diese Art von Betrachtung natürlich als falsch oder nicht gerechtfertigt bezeichnet werden. Aber dieses Argument könnte nicht zutreffend sein, da gerade auch die unbegrenzte Gültigkeit der Rationalität bezweifelt werden mag. Alle Argumente, die die Verwendung eines bestimmten oder eines anderen Tabus begünstigen, um den Zusammenhalt einer Gesellschaft zu rechtfertigen, sollten ausgewogen gegenüber anderen Gesichtspunkten sein, die entweder innerhalb der gleichen oder in benachbarten Gesellschaften zu betrachten sind. Dies bedeutet keinesfalls, beliebige Willkür oder esoterisches Verhalten oder Feindseligkeit gegen Wissenschaften zu favorisieren.

Ein Gleichgewicht zwischen den zur Definition eine Gesellschaft nötigen Tabus könnte ein wünschenswertes Ziel für die Zukunft sein. Polyamory scheint in der Lage zu sein, die Monogamie teilweise zu ersetzen. Die Förderung einer eher einfachen Religiosität, ohne sich auf einen bestimmten Gott zu beziehen, kann helfen, Kämpfe zwischen Konfessionen und institutionalisierten Religionen zu vermeiden. Zulassen von Nicht-Rationalität kann das weite Gebiet der Künste fördern. Für die Bekämpfung von Gewalt sollte möglichst eine bessere Polizei statt mehr Militärs vorgezogen werden.  

© Copyright (all rights reserved) Hans J. Unsoeld, Berlin 2017

Updated September 09, 2017

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