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Imaginär und real

Eine oder viele Welten

Unter DER Welt verstehen wir in unserer Umgangssprache auf scheinbar einfache Art „alles, was es gibt“. Doch sofort tauchen aus allen möglichen Richtungen Heckenschützen auf und schreien: So einfach geht es nicht.

Schüchtern könnn wir fragen, ob „es“ nur ein wenig komplizierter oder sehr komplex ist. Aber mit dieser Rückfrage kommt eben gleich eine neue Frage ins Spiel, was nämlich das „Es“ ist.

Sowohl Religionen als auch Philosophien haben sich gleichsam auf diese grundlegenden Probleme gestürzt.

Religionen akzeptieren feste Grundlagen wie Spielregeln, Philosophien stellen dagegen auch diese Regeln infrage. Letzteres allein ermöglicht, Entwicklung ohne Einschränkungen zu verstehen und auch zu verwirklichen. Das kommt der Feststellung gleich, dass es prinzipiell mehrerer Komponenten bedarf sowohl in der Zusammensetzung als auch in der Beschreibung, aber auch sowohl in dem, was zwischen den Komponenten wirkt und heutzutage Wechselwirkung genannt wird als auch in den Möglichkeiten der Verwirklichung, die wir als Freiheit oder präziser Freiheitsgrade bezeichnen.

Die Naturwissenschaften haben gewiss zu einer klareren Sicht auf diese Fragen beigetragen, und zwar deutlich ausgehend von physikalischem Verständnis.

Gerichtet sein oder frei wählen können

Die physikalische Welt lässt sich im Prinzip (d.h. hinreichend) unter Beschränkung auf vier Dimensionen durch “trial and error” (Experiment, Messen und Anpassen) erfassen und beschreiben. Schon die Untersuchung einfacher Schwingungen erfordert dabei komplexe Zahlen. Die Zeit wird analytisch als imaginäre Größe und geometrisch als radial einseitig gerichtet dargestellt. Der Ablauf der Zeit kann entweder in willkürlichen, aber genau definierten Einheiten gemessen werden, z.B. durch die Anzahl von ungestörten Schwingungen, oder aber durch die Anzahl von Generationen. Die Generationsdauer ist aber nur in mathematischen Darstellungen wie etwa der abgeschlossenen, also keinen äußeren Einflüssen unterliegenden Theorie der Fraktale von B. Mandelbrot genau bestimmt. In der Natur unterliegt sie jedoch äußeren Einflüssen und wird dadurch eine unscharfe Größe. Durch ihr zugeordnete und damit ebenfalls gerichtete unscharfe Systemvervielfältigung (Entwicklung) können wir die Entstehung von drei räumliche Dimensionen wie die Aufspaltung von Spektrallinien in einem Feld konzipieren. Diese sind nicht einseitig gerichtet und spannen Bereiche auf zwischen jeweils zwei als dual bezeichneten Polen (Extremwerte).

In den Geisteswissenschaften entsprichen die Begriffe von Sein (Ontologie) und Entwicklung (Metamorphose) weitgehend den Begriffen von “trial and error” der Naturwissenschaften. Beide Artern von Wissenschaft verbinden Vorstellungen von verschieden stark ausgeprägter Ordnung zwischen Logik und Komplexität mit Vorstellungen von Auswahl und Wertung (Selektion und Evolution), um Leben zu erfassen.

Naturwissenschaftlich beschrieben entstehen aus chemischen Molekülen niedrige Lebewesen durch Evolution zunächst einer einseitig auf Fortpflanzung gerichteten Zelle. Der Fortpflanzung kann damit durchaus imaginärer Charakter zugesprochen werden. Aus dieser Zelle entstehen durch Evolution drei weitere Körperteile (Extremitäten, Kopf und Oberleib), denen nun reale Dimensionen zugeordnet werden können. Denn reale Aktivitäten erlauben Auswahl und Wertungen, welche kulturell verstanden werden können.

Kultur, als Mittler zwischen Lebewesen und Welt verstanden, muss auch in vier Dimensionen vorkommen, wobei Religiosität, die primär mit Entstehen und Vergehen, also im Prinzip mit Fortpflanzung zu tun hat, als imaginär gesehen werden kann, während Kunst, Geistes- und Naturwissenschaften als reale Ausprägungen betrachtet werden können.

In jeder realen Dimension ist ein Abwägen (Messen) zwischen zwei Extremwerten möglich (Dualität). Diese Extremwerte lassen sich, für Geisteswissenschaftler ungewohnt, mit Kategorien identifizieren. Zu jedem vier-dimensionalen System müssen nicht acht, sondern nur sieben Kategorien angebbar sein, weil eben die imaginäre Dimension einseitig gerichtet von Entstehung zu Vergehen führt.

Die ursprünglich aus dem Buddhismus stammende Vorstellung eines mittleren Wegs bedeutet ein Abwägen in vier verschiedenen Dimensionen, wobei Wahlfreiheit bestehen muss, welches im Prinzip willkürliche System von Dimensionen und zugeordneten Katagorien benutzt wird. Dies kann Konflikte hervorrufen, welche insbesondere bei einseitigem Beharren auf Extremfällen zu nicht geordnet lösbaren Singularitäten führen. Die imaginäre Komponente gestattet kein Abwägen zwischen Entstehung und Vergehen und führt so zwangsläufig zu der als Geburt und Tod bekannten Singularität. Entstehen als positiv und Vergehen als negativ zu bewerten lässt sich aus der Natur und ebenso im Leben nicht begründen.


Diskret oder kontinuierlich

Die Welt und ich – beide sind wir friedliebende Raubtiere. Es gibt natürlich auch andere Beschreibungsmöglichkeiten dieses Verhältnisses, vielleicht sogar unendlich viele, doch gerade diese erscheint mir als Schreiberling hier und jetzt besonders wichtig. Ist das Glaube oder Tatsache, Populismus oder Wissenschaft, Unsinn oder Wahrheit?

Diese Begriffe geraten heutzutage bei uns – heißt das tendenziell hier und jetzt? - immer mehr ins Schwimmen. Schwimmen hat aber sowohl eine fast anumalische als auch eine kulturell entwickelte Bedeutung – entweder das Vergnügen, sich im tiefen Wasser zu bewegen , oder die Eigenschaft von leichten Körpern, in schwereren Flüssigkeiten nicht unterzugehen.

Im Grunde könnte es die einfachste Frage in einem solchen Fall sein, ob es sich um strikt getrennte Eigenschaften handelt oder ob diese mehr oder weniger kontinuierlich ineinander übergehen, doch scheinbar wird diese in meinem Land zur Zeit – wieder hier und jetzt? - selten gestellt und noch seltenerer ernst genommen und kaum beantwortet. Vielleicht ist die Antwort, dass selbstverständlich fließende Übergänge bestehen, so selbstverständlich, dass keiner es für nötig hält, sich damit aufzuhalten und somit meist lieber gleich zur nunmehr gewohnten kapitalistischen Tagesordnung übergeht. Doch es gibt bekanntlich Stimmen, die Kapitalismus mit der Raubtier-Eigenschaft gleichsetzen und diesen kräftig in Frage stellen.

Auf die anfängliche Frage nach dem in der Welt und uns selbst verborgenen friedliebenden Raubtier zurückkommend dürfte also das wichtigste Problem des Kapitalismus nicht seine Unterscheidung zum angeblich so schrecklichen Sozialismus sein, sondern seine fehlende Friedfertigkeit. Klar – Darwin hat ja auch schon längst festgestellt, dass Selektion die Entwicklung vorantreibt, und Selektion betreiben eben die Raubtiere und nicht die Friedfertigen. Doch stimmt das?

Bin kein sehr gläubiger Mensch und Bibelleser, doch die Story, welche mich darin wohl in vielerlei Hinsicht am meisten beschäftigt hat, ist diejenige vom Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies und nicht etwa sogenannte Transzendenz. Gehr es nicht um den fließenden Übergang zwischen Friedfertigkeit und Raubtier im Menschen? Dieser ist nicht eindeutig bestimmt, hat sich entwickelt und unterliegt starken Schwankungen.

Als sich die Menschen aus den Affen entwickelt haben in Tausenden und Millionen kleinen Schritten von Generation zu Generation, muss es generell das vielleicht wichtigste Thema gewesen sein, wie die wenigen merkwürdigen Mutanten, die noch nicht einmal die Bezeichnung Mensch trugen, sich anfangs gegen die Überzahl der Affen durchsetzen konnten, die immer mehr den Kontakt zu ihnen aus Konkurrenzgründen abbrachen. Die damalige Kommunikation bestand gewiss nicht nur aus den Vorläufern unserer Sprache, sondern spielte sich auch mit Gebärden und anderen Verhaltensformen ab. Je weiter aber jene Kommunikation reduziert wurde, desto mehr lief diese im Wesentlichen auf eine Beurteilung der Friedfertigkeit hinaus. Damit ging der kontinuierliche Aspekt der Frage verloren, und es wurde daraus reine Schwarz-weiß- oder Ja-Nein-Entscheidung. Es ging also etwas verloren und wurde nicht etwa gewonnen. Damit begannen grimmige Auseinandersetzungen zwischen den Affen und jenen Mutanten, aus denen wir schließlich hervorgegangen sind. Die Menschen erwarben sehr entscheidende und oft siegbringende Fähigkeiten wie etwa Werkzeuge und Waffen oder Hochsprache und Diskussion, und setzten diese offensichtlich nicht gerade selten erbarmungslos zur Vernichtung von Affen ein, die doch ursprünglich ihre nächsten Verwandten gewesen waren.

Mit dieser im Grunde hochpeinlichebn Situation sind wir hier und jetzt immer noch konfrontiert. Die übliche Reaktion ist die Leugnung des Tatbestandes. Die Menschen behaupten einfach, selbst keine Tiere zu sein und etablieren eine so weitgehend wie möglich getrennte Welt, quasi hinter einer hohen Mauer. Doch nicht nur nach moderner wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern auch bereits nach dem legendären „guten“ Menschenverstand gibt es in der Natur und damit auch für die Menschen keine völlig undurchlässigen Mauern.

Das dürfte aller Wahrscheinlichkeit nach die Basis der Überlieferung vom Überschreiten der biblischen Grenzen des Paradieses sein, wobei das geheimnisvoll sich einschleichende Wort „gut“ eine erhebliche Rolle spielen dürfte. Dieser Begrifff wurde absolutiert, was bedeutet, dass er ins Land der Schwarz-Weiß-Malerei verbannt wurde und dort aber unkontrolliert prächtig gedeihte.


Animalisch oder menschlich

Die klare Folgerung für uns, welche sich immer deutlicher herausschält, ist die notwendige Reduktion der Vorstellung von der völligen Trennung von Mensch und Tier. Der Mensch ist schlicht und einfach eine Tierart und hat aber, wenn sich diese Ansicht endlich durchsetzen sollte, ein größeres Problem als zuvor und in jeglicher Hinsicht mit seiner eigenen Bestimmung. Wie wollen wir mit den Raubtieranlagen in uns umgehen?

Es geht nicht darum, ob wir ein Raubtier sind oder nicht, sondern in welchem Maß und wie dies beeinflussbar ist. Diese Frage wird hochgradig tabuisiert, was auch einen Vorteil in der Selektion verschaffen mag. Man oder sogar auch frau mögen sich dazu doch bitte Auskünfte beim Papst oder ähnlichen Instanzen holen. Diese haben durchgehend genauso wie jeder „gute“ militärische Führer erkannt, dass die vielleicht wichtigste Voraussetzung für einen Sieg, also erfolgreiche Selektion, eine fest indoktrinierte Ideologie ist. Wie aber Hitler und viele andere ähnliche Typen zeigen, ist eine solche nicht unbedingt das beste Mittel für erfolgreiche Selektion. Gibt es auch Selektion mit freidlichen Mitteln?

Schauen wir uns zunächst einfach in der Natur um, was zur Zeit zum Beispiel unter anderem auf dem kulturell orientierten TV-Sender ARTE ausgiebig betrieben wird, nämlich wie sich in der Natur friedliebende und raubtierartige Lebewesen durchsetzen. Die Menschen bewundern insgeheim die Raubtiere, sprechen zwar nur von deren besonderer Schönheit, erheben aber keine Stimme, wenn auf dem Bildschirm ein scheinbar häßliches, aber bestens gerüstetes Krokodil ein scheinbar hilfloses schönes Zebra verschlingt. Doch – neerdings gibt es Vegetarier, die ihre Nahrungs-Einschränkung durchaus als Minifesttion von Friedfertigkeit verstehen. Ist das imaginär oder realistisch?

Kann praktische Philosophie etwas zu diesen Daseinfragen sagen oder bleibt sie auf Theorie beschränkt und wird damit für praktisch nutzlos erklärt? An diesem Punkt sollte die Verbindung der beiden wohl als groß zu bezeichnenden Fragen nach dem Übergang von Friedfertigkeit zum Raubtier-Verhalten und nach demjenigem vom Tier zum Menschen einen tiefen Zusammenhang zeigen. Doch taugt der Bildschirm mit entsprechenden Fernsehsendungen zur Darstellung und vollends zur Auslösung von bewusstem Handeln? Daran dürfte in den meisten Fällen nicht nur großer Zweifel bestehen, sondern sowohl die einfache jederzeitige Abschaltbarkeit von als belastend empfundenen Filmen als auch entsprechende Umfragen bestätigen sofort das Gegenteil. Moral wird als Antidot vor allem von den Religionen genannt, bleibt aber ebenfalls fragwürdig, mangelhaft begründet und unwirksam. Ob nicht langsam die Vorstellung Fuß fassen kann, dass eben doch Lösungen im Bereich der Philosophie gefunden werden können, was aber zunächst einmal deren Anerkennung und damit neuer Säkularisierung bedürfte.

Bislang wurde Philosophie insbesondere in der europäischen Kultur weitgehend als ein erlernbares Lehrgebäude verstanden, wodurch aber die Bearbeitung der genannten Fragen eher verhindert als gefördert wurde. Philosophie muss als Lebensaufgabe genommen werden, die Theorie und Praxis einschließt und insbesondere und hauptsächlich das immense Gebiet zwischen diesen beiden, und sich an Tabuthemen heranwagen, die insbesondere seitens der Religionen kategorisch ausgeschlossen wurden, so vor allem der Überlebnskampf und die damit eng zusammenhängende Sexualität als typisch tierische Eigenschaften im Menschen, und generell unser Verhältnis zu den Tieren, die tagtäglich zu Millionen etwa in Schlachthöfen oder auch beim Artensterben umgebracht werden.

Die Weiterentwicklung der tierischen Eigenschaften des Menschen dürfte dabei ein besonders heißes Thema sein. Der Autor hat sich seit langem gern mit einem Raben identifiziert, was meist nur belächelt wurde und auch darf, jedoch nicht ausschließlich. Wir fliegen heutzutage gern in der Welt herum, sind jedoch mit grausigen Tod durch die schwindende Ozonschicht und weitere Umweltschäden bedroht. So wären also Flügel und damit die eigene Fähigkeit, völlig ökologisch flegen zu können, gewiss ein träumenswerter Traum, eben der nicht ganz neue vom Birdman. Jetzt werden sofort alle kommen und das als rein imaginär bezeichnen. Doch wer die Raben-Philosophie etwas mehr gelesen hat, was „natürlich“ meistens nicht der Fall ist, würde die naturwissenschaftlich angehauchten Überlegungen kennen, dass aus einem anfäglichen imaginären Zustand durch Aufspaltung drei reale Zustände hervorgehen könnten. Oder wie könnten sonst aus der anfänglich nur existierenden Zeit drei Raumkomponenten, also „schlicht und einfach“ DER Raum entstanden sein? Wie es weiter gegangen sein mag, hat doch bereits Einstein geahnt. Masse und Energie lassen sich eben beidseitig ineinander umwandeln, was genauso für Materie und Kommunikation oder Körper und Geist gelten mag. Aber auch er konnte nicht alles streng beweisen.

® Copyright und alle Recte Hans J. Unsoeld, Berlin 2019

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